Authentizität historischer Quellen

Wie authentisch sind historische Quellen?
Bilden sie wirklich 1:1 das ab, was damals tatsächlich geschah?

Um diese Fragen zu beantworten, sollte man sich zuerst die möglichen Fehlerquellen schriftlicher Überlieferungen, die Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende alt sind, vor Augen führen.

In der Geschichtswissenschaft kann nicht wie in den Naturwissenschaften exakt gewogen, gemessen oder gezählt werden. Infolgedessen hat der Mensch einen viel höheren Einfluss auf das Ergebnis als in den exakten Wissenschaften.

Das beginnt ganz früh mit dem Chronisten selbst.

War er überhaupt bei den Ereignissen Zeuge, über die er berichtet?

Oder wurde ihm davon berichtet?

Wie nahm der Augenzeuge das Geschehen wahr? Menschliche Wahrnehmung ist subjektiv sehr verschieden. Was interpretierte der Augenzeuge in seine Wahrnehmung, wie verstand er die Geschehnisse? Oder verstand er sie vielleicht gar nicht und konnte sie deshalb nur unvollständig weitergeben? Welcher Agenda gehörte der Zeuge an? Was interpretierte er vor diesem Hintergrund schon in die Ereignisse?

Dann kommen wir als nächster Stufe zu dem Chronisten. Bei ihm müssen wir uns die gleichen Fragen stellen wie beim Zeugen. Wobei gerade seiner Agenda eine noch viel größere Rolle als der des Zeugen zukommt. Denn der Chronist schreibt das auf, was wir heute lesen können. Niemand von uns heute war bei den beschriebenen Ereignissen dabei.

Die nächste und letzte Stufe ist dann die Interpretation durch uns heutige Menschen, vorrangig die Historiker. Diese müssen sich denselben Fragen stellen bzw. sie sich selbst stellen, die wir uns heute in Bezug auf Augenzeugen und/oder Chronist stellen.

Was bleibt als Ergebnis?
Sind schriftliche historische Überlieferungen in Stein gemeißelt?

Unter diesen Voraussetzungen können sie es gar nicht, sondern immer nur ein mögliches Szenario abbilden, wie es damals geschehen sein könnte! Besonders dann, wenn es für ein Ereignis verschiedene Überlieferungen gibt. Welche ist richtig, welche falsch? Keine, denn ein „richtig“ oder „falsch“ kann es hier eben nicht geben.

 

Was bedeutet dies für einen Romanautor,
der einen historischen Roman schreiben möchte?
Welcher Quelle soll er trauen?
Kann er überhaupt einer trauen oder nimmt er die Quellen
als eine Art Leitgerüst, in das er seine Geschichte hineinschreibt?

Ich möchte dies gerne anhand einiger kleiner Beispiele meiner Richard-Löwenherz-Serie erläutern:

1.

Roger von Howeden, der wohl bekannteste Chronist dieser Zeit, erlebte den größten Teil des 3. Kreuzzuges gar nicht mit. Denn er verließ das Heilige Land direkt nach der Eroberung von Akkon und kehrte zusammen mit dem französischen König Philippe II. nach Europa zurück. So erlebte er weder das Massaker von Akkon noch die Schlacht von Arsuf oder den zweimaligen Marsch auf Jerusalem oder den Abschluss des Vertrages von Ramla mit. Man berichtete ihm davon.

2.

Welcher Agenda folgte der Chronist? Die meisten dieser zeitgenössischen Chronisten waren Mönche oder auf andere Weise dem Klerus verbunden. Richard hatte aber nicht das beste Verhältnis zum Klerus. Denn er führte das weiter, was sein Vater Henry II. begonnen hatte: den Klerus in England in seiner Macht massiv zu beschneiden. Was Henry II. mit Thomas Becket nicht gelang, gelang Richard über zwanzig Jahre später mit seinem Freund Hubert Walter als Erzbischof von Canterbury.

Man kann nun trefflich spekulieren, wie viel der schlechten Berichterstattung über Richard diesem Kampf um Macht geschuldet ist.

3.

In einigen Quellen wird überliefert, dass Richard das Kreuzzugsgelübde gar nicht selbst ablegte, sondern es als Teil seines Erbes von Henry II. übernahm.

Andere wiederum überliefern, dass Richard der erste europäische Fürst nördlich der Alpen war, der das Kreuz nahm, nachdem der Papst zum 3. Kreuzzug aufgerufen hatte.

4.

Wie zuverlässig ist eine einzige Quelle zu einem bestimmten Ereignis?

Es gibt lediglich eine Quelle, die davon berichtet, dass Richard sich auf dem Weg nach Palästina, während er 1190/91 auf Sizilien überwinterte, selbst der Sodomie bezichtigte und im Dom von Messina öffentlich auspeitschen ließ, um Buße zu tun.

Viele Historiker nahmen diese Quelle, besonders direkt nach dem 2. Weltkrieg, als man keine Helden mehr wollte, und zum Ende des 20. Jahrhunderts, als Indiz für Richards Homo- oder zumindest Bisexualität. Dieser Vorwurf ist jedenfalls im Moment wieder weitgehend ausgeräumt.

 

Nun sitzt man als Autor nach umfangreichem Quellenstudium vor diesen verschiedenartigen Fakten und stellt sich die Frage: „Wie schreibe ich jetzt meinen Roman?“

Diese Frage kann ich nur für mich beantworten: Ich suche mir die Quellen, die zu meiner fiktiven Geschichte passen und orientiere mich daran. Die Lücken fülle ich mit meiner Fantasie auf – und davon gibt es eine Menge, egal, um welche Ereignissen und Personen es sich handelt.

Wenn ich sich gegenseitig widersprechende Quellen habe, muss ich mich entweder für eine entscheiden oder alle nicht berücksichtigen. Diese Frage beantworte ich in jedem Fall individuell anhand meiner Geschichte, die ich schreiben möchte.

Fazit: Für mich ist auch ein historischer Roman, der gegen Quellen verstößt, weil er sich an der „anderen Version ausrichtet“, ein historischer Roman.

 

Keine Kommentare: